Unfähigkeit zu trauern

Predigtext: Lukasevangelium, Kapitel 7, 11-16

16. Sonntag nach Trinitatis

gehalten in der Hüttener Kirche am 15. September 2013

 

Der Jüngling zu Nain

Und es begab sich danach, daß Jesus in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge.

Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr.

Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht!

Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf!

 

Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter.

 

Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht.

 

 

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

Mit meiner Freundin Gertrud unterhalte ich mich oft

über Sterben und Tod.

Sie wird dieses Jahr 85 und hat viel überlebt.

 

Sie trauert über nicht gelebtes Leben, über viel Gewalt,

die sie erlebt hat, verbaute Möglichkeiten,

sie trauert über erhebliche körperliche Einschränkungen – und sie hat Angst vor dem was auf sie zukommt.

 

Mir tut es gut, mich mit ihr immer wieder zu unterhalten, denn sie fasst in Worte, wovor auch ich  Angst habe.

 

Ihre Tränen, ihr Weinen, über Menschen,

die gestorben sind, die ihr viel bedeutet haben, tun mir gut. Denn ihr Weinen ist auch mein Weinen.

 

Ich halte meine Freundin für einen mutigen Menschen,

weil sie Angst und Trauer zulässt.

 

Niemals würde ich ihr sagen, dass sie mit dem Weinen aufhören soll und dankbar sein soll,

dass sie so alt geworden ist.

 

Ihre Gefühle und ihr Mitempfinden

gerade wenn es um himmelschreiende Ungerechtigkeit

um menschenverachtende Brutalität geht –

sind ganz gegenwärtig und real.

 

Gefühle nicht zeigen – das wurde ihr lange Jahre

von anderen Menschen aufgezwungen.

 

Schon als Kind wurde ihr das Weinen verboten.

 

Als sie als Schwesternschülerin in den Kriegsjahren 44/45 schwer erkrankte, kam eine christlich-fromme Schwester

zu ihr und sagte ihr,

dass sie darüber nachdenken sollte,

wofür Gott ihr diese Strafe auferlegt hat.

 

Später in den 60ziger – 70ziger – 80ziger Jahren

musste sie in Abhängigkeit leben ...

wurde von ihr verlangt,

zu funktionieren ... sich anzupassen ...

ihre Wünsche hinten an zu stellen ...

wurde sie angebrüllt, wenn sie Gefühle zeigte ...

weil das sich nicht schicken täte ...

 

Weine vor allem nicht in der Öffentlichkeit

Das ist peinlich ... kindisch ... schwach ...

 

Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Gesellschaft menschlicher zugehen würde, wenn Gefühle, wie Angst und Trauer, nicht so weggedrückt würden.

 

Oft erzählen mir Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag erleiden mussten, wie sie von anderen Menschen plötzlich gemieden werden, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätten.

 

Wovor laufen sie davon?

Vor ihrer Unfähigkeit dem Trauernden zu begegnen?

Oder vor ihren eigenen Ängsten, die sie

weit ins Unterbewusstsein verbannt haben?

  • „Ja, was soll ich sagen ... was sind passende Worte ... vielleicht: Wird schon wieder –
  • oder: Das Leben geht weiter –
  • oder: War vielleicht besser so –
  • oder: Aufrichtiges Beileid –
  • oder: Zeit heilt alle Wunden –
  • oder: Sie/ Er ist erlöst.“
  • Passende Worte.

    Als ich im letzten Jahr eine Trauerkarte für einen jungen Menschen geschrieben habe, da habe ich so mit mir gerungen ... und dann habe ich sie doch geschrieben

    und die Trauerkarte hat mir in der Hand gebrannt ...“

     

    Hoffentlich habe ich was geschrieben, womit der Angehörige etwas anfangen kann. Hoffentlich nichts, was absolut gegen die Gefühle von maßloser Trauer geht.

     

    Ach, was denk ich an Trauerfeiern ...

    an Menschen ... an Leid ... an Sprachlosigkeit ...

    und Rücksichtslosigkeit und Gedankenlosigkeit von anderen.

    Und da ist kein Jesus-Wunderheiler oder

    Jesus-Totenauferwecker aufgetaucht ....

     

    • Als Jesus aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr.
    • Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht!
    • Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf!
  • Im Lukasevangelium lesen wir, dass Jesus das Schicksal der Frau ins Jammern gebracht hat – also dass er Mitleid mit ihr hatte, und ganz schnell den Toten Sohn auferweckt hat.

     

    Mitten im Leben auferweckt hat –

    damit der Skandal des Todes nicht unbeantwortet bleibt – damit der Tod im Leben nicht das letzte Wort behält.

     

    Mich stört bei der Totenauferweckungsgeschichte im Lukasevangelium, dass sie so im Vorbeigehen geschieht ... dass nicht lange mitgetrauert werden muss,

    denn das Problem Tod wird schnell beseitigt.

    Bei der Totenauferweckung des Lazarus im Johannesevangelium läuft es nicht so schnell im Vorbeigehen. Da wird Jesus mit der Trauer der Angehörigen hart konfrontiert und auch die Auferweckung an sich geht nicht mit einem Fingerschnippen.

     

    Hat Jesus Tote auferweckt?

    Von ihm wird es erzählt.

    Ich könnte diese Bibelgeschichte bei Trauerfeiern nie predigen. Sie täte einfach weh.

     

    Da ist der Tod ganz real gegenwärtig.

    Millionen und Abermillionen Menschen müssen Jahr um Jahr ihre Toten begraben.

    ****

    Wenn ich Konfirmanden unterrichten darf,

    dann lade ich immer einen Bestatter ein.

    Das habe ich bei den Osdorfer, den Krusendorfer,

    den Osterröhnfelder ... den Hüttener, den Riesebyer Konfirmanden gemacht.

    Und das mache ich auch im November

    bei den Owschlager Konfis.

     

    Unglaublich diese Stunden, wenn ich daran zurück denke.

     

    Die Konfirmanden dürfen alles um die Bestattung herum fragen. Bei den Riesebyer Konfis hat der Bestatter einen „Leichenwagen“ mit genommen, darin ein leerer Sarg und eine Urne hatte er auch dabei.

    Aus dem Katalog haben sich Konfis den teuersten Sarg ausgesucht. Schwarz – Klavierlack.

    Der war richtig teuer.

     

    Einige der Jugendlichen waren schon auf Trauerfeiern ...

    und haben davon erzählt.

    Auch, erzählt, wenn sie nicht zur Trauerfeier gehen durften, und ihnen das dann gefehlt hat.

     

    Der Tod gehört in das Leben.

     

    Er darf nicht ausgeklammert werden.

     

    Auch Trauer darf nicht ausgeklammert werden.

    Und jeder, der trauert, trauert höchstpersönlich ...

    hat seine eigene Art zu trauern.

     

    Richtig trauern dürfen – dafür wird Menschen heute oft nicht genug Zeit gelassen.

     

    *****

    Sogar den Sterbenden wird heute nicht genug Zeit zum Sterben gelassen.

    Die Palliativmedizin wird zeitlich beschränkt ... Angehörige müssen mit ihrer Krankenkasse um Leistungen streiten.

     

    Auch wird immer noch in Krankenhäusern die Würde von Sterbenden verletzt. Entweder müssen sie schnell Platz machen ... oder ihr Sterben wird medizinisch in die Länge gezogen.

    Deswegen machen ja auch viele Menschen eine Patientenverfügung, um nicht nur an Apparaten am Leben erhalten zu werden und um in Würde sterben zu können.

     

    *****

    Mit dem Tag unserer Geburt sind wird vom Tod bedroht. Das ist so, für uns Menschen ... Tiere ... Pflanzen ... für unseren blauen Planeten Erde. Auch die Erde wird sterben.

    Hat rein gar nicht mit einem strafenden Gott zu tun.

    Oder weil alle Menschen Sünder sind, weil Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.

    Quatsch – ist das.

    Furchtbares Gottesbild.

     

    In den letzten Jahren ging es mir immer darum,

    Gott als mitleidenden Gott zu predigen.

    Gott, der mit den Trauernden und Leidenden weint.

     

    Kein Gott im Glanz und Gloria ... kein Gott von oben ... sondern Gott, der mitten im Leben da ist.

    Der nicht wegläuft, wenn es hässlich wird ...

     

    Wenn ich im Frühjahr den ersten Zitronenfalter sehe,

    der die Kälte des Winters überlebt hat, dann ist da Gott da.

     

    Wenn Menschen anderen Menschen helfen, ihnen menschlich begegnen, dann ist Gott da.

    Wenn ein Mensch am Boden liegt, und ein anderer tritt im ins Gesicht, dann ist Gott da.

    Wenn ein Mensch seine Machtposition ausnutzt und einen anderen schwer demütigt, dann ist Gott da.

     

    Kein Gott im Glanz und Gloria ... kein Gott von oben ...

     

    Über das Himmelreich im Himmel kann ich nicht viel sagen. Ich war noch nicht drüben.

    Ich stand zwar mehrfach im Leben auf der Kippe ...

    was außerhalb der Weltzeit ist, kann ich nur hoffen, glauben.

     

    Wichtiger ist mir das Leben – im hier und jetzt.

    Denn ich weiß zu tiefst:

    Ich bin nur Gast auf Erden und trage Verantwortung.

    Heute beginnt der erste Tag vom Rest meines Lebens.

    Heute ist wichtig!

     

    Als ich in der schlimmsten Stunde meines Lebens mir mein erstes Kreuz gebastelt habe, da sagte ich mir:

    Dies Kreuz steht für Leben!

    Trotz allem LEBEN!

    Trotz allem habe ich etwas daraus gemacht

    und habe nicht verlernt zu trauern.

    Die Trauer und das Mitgefühl halten mich lebendig.

     

    AMEN

     

     

     

     

    Gott,

    was bedeutet es, nicht trauern zu können.

    Hilf Menschen, die das nicht können –

    hilf Menschen aus ihrer Erstarrung heraus.

    Die seelische Trauerlandschaft zu betreten,

    das ist ein schwerer Weg ... und es braucht viel Zeit,

    sich selbst als Trauernden zu spüren.

    Doch echt gefühlte Trauer ist etwas anderes als Depression.

    Es ist ein echtes Gefühl.

    Amen

     

     

    Mit G rechnen

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