Predigt 4 Juli 2010

Predigt, gehalten am 4. Juli 2010 in St. Martha, Berlin-Kreuzberg, im Rahmen eines Sondergottesdienstes mit dem Thema: Kindesmissbrauch.

 

Liebe Brüder und Schwestern,

Liebe Menschen, die ihr Gottes Angesicht tragt,

Drei Dinge sind in meinem Leben wichtig: Das Kämpfen, die Wandlung und die Freiheit. Kämpfen – mein Leben lang habe ich gekämpft. Und ich kämpfe immer noch. Ich kämpfe mit dem Lebensverneinenden, das mich von außen getroffen hat und das mich immer wieder trifft. Ich kämpfe mit mir selbst in mir. Das passt wunderbar zu dem Predigttext „Jakobs Kampf am Jabbok“.

Jakob kämpft – ja ringt - auf seiner Wüstenwanderung allein mit seinem Gott. Das Lebensverneinende führt ihn dazu. Er muss diesen Kampf kämpfen, sonst kann er nicht weiterleben.

Dass er das wagt, sich auf diesen ungleichen Kampf einzulassen, bringt sowohl für ihn als auch für Gott eine Wandlung.  Im Text heißt es:

  • Und als er (Gott)sah, dass er ihn (Jakob) nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt.
  • Trotz seines Angeschlagenseins, seiner Hüftverrenkung, ist es für Jakob, den Gottkämpfer, ein positiver Kampf, denn er bleibt an Gott dran, lässt nicht locker, ringt sich Gottes Segen ab:
    • Und er (Gott)sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
  • Das Gesegnet sein gibt Jakob Kraft, weiter zu leben. Phantastisch, ja irre, Gott lässt sich auf das Ringen ein!
  •  

    Aus Jakob wird Israel!

    • Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.
  • Weiter kämpfen, überleben, dem Lebensverneinendem die Stirn bieten, und gleichzeitig gesegnet sein – das ist Stärke, das zeugt von Freiheit und Lebendigkeit.
  • Drei Dinge sind in meinem Leben wichtig: Das Kämpfen, die Wandlung und die Freiheit. Allein das Schreiben meiner Predigt ist ein inneres Ringen. Darf ich das so machen? Darf  und kann ich heute / hier im Talar stehen in der Martha-Kirche in Berlin Kreuzberg und darf und kann ich sprechen über mein persönliches Kinderhöllenlabyrinth – über den schweren Missbrauch, den ich über Jahre in meiner Kindheit erlebt habe und dessen Folgen? Ich sage mir immer wieder: ich stehe mit dem, was mir geschehen ist, nicht allein – ich ringe nicht allein einen tagtäglich schweren Kampf ums Überleben. Schweren Missbrauch erleben so viele Menschen und kämpfen. Die Dunkelziffer ist sehr hoch.

    Ich trage die Haut einer Missbrauchten, ich trage sie immer mit mir herum. So wie ich ja auch die „kleine Susanne“ als „inneres Kind“ in mir trage. Beides, meine Haut und mein inneres Kind gehören zu mir. Die Gefühle einer Missbrauchten sind in mir lebendig. Wenn ich es nicht will, kommen sie hoch und ziehen mich runter. Schuld, Scham, Ohnmacht, absolutes Alleinsein – vernichtende Gefühle sind in meiner Seele und in meinem Leibgedächtnis gespeichert.

    Und so muss ich immer wieder von neuem um mein Leben kämpfen, um meine Daseinsberechtigung um mein Menschsein. Dann höre ich Menschen sagen: Wieso musst Du noch kämpfen, das ist doch schon lange her? Das sind alte vergangene Geschichten, heute bist Du eine erwachsene Frau und Dein Peiniger ist schon 15 Jahre tot!  Leg es ab! Vergiss es!

    Es vergessen?!

    Diese unsichtbare „Kriegsverletzung“ aus meiner Kindheit vergessen?! Bekomme ich denn dann eine neue Seele, einen neuen Leib? Oder heilen die Verletzungen ab, wie bei einer sichtbaren Wunde?

    Ich sage Euch: Die Sehnsucht nach Heilung, Heilsein, nach Unbeschädigtsein ... nach unbeschädigtem Urvertrauen ... diese Sehnsucht bleibt ... die Sehnsucht nach einem guten Vater und einer guten Mutter ... nach einer heilen Kindheit ... das alles bleibt lebenslang! Lebenslang herumlaufen mit den inneren Verletzungen, den alten Gefühlen, die unbeherrschbar hochkommen?!

    Lebenslang sich fühlen wie ein Mondkalb, wie eine Aussätzige?!

    Warum, es gibt doch Therapie? Es gibt psychosomatische Kliniken! Psychotherapie, Psychiater und jede Menge Antidepressiva oder Neuroleptika - Beruhigungsmittel aller Art, um die Seele zu beruhigen.

    Ja, davon habe ich reichlich Gebrauch gemacht! Hab die ganze Palette durch! Mit EMDR-Traumatherapie ... alles gut und schön / Hilfen zum Überleben / gute Krücken für die Seele, um überhaupt heraus zu finden, was mit mir los ist, warum ich anders fühle als andere ... warum ich von dem Trieb besessen bin, mir selbst Schmerz zu zufügen.

    Ich hab jetzt auch eine Diagnose!  Chronische Posttraumatische Belastungsstörung mit Alkoholsyndrom und Borderliner-Störung. Es war ein langer Weg zu dieser Diagnose hin. Ein langer Kampf, bis mir ärztlich attestiert wurde, dass ich LEBENSLANG – LEBENSLÄNGLICH damit zu tun haben werde.

    Jakobs Hüfte wurde über dem Ringen mit Gott verrenkt ...
    Jakob, Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft!
    Wieso musst Du noch kämpfen, das ist doch schon lange her?
    Warum, es gibt doch Therapie?
    Warum bist Du eigentlich erst so spät behandelt worden? Warum erst als Erwachsene Frau, nicht als Kind? Ja, warum wohl!?

     

    ORGELMEDITATION

    Ich trage die Haut einer Missbrauchten – und deswegen stehe ich hier als Pastorin und als Borderliner! Ich kämpfe meinen Kampf allein für mich – doch ich stehe heute hier stellvertretend für die Opfer von sexuellem Missbrauch. Als Betroffene ist mir wichtig, deutlich zu machen, wie schwerwiegend die Verletzungen durch sexuellen Missbrauch sind. Dass das nicht etwas ist, was sich auswächst, was man einfach ablegen ... oder vergessen kann. Und auf die „Warum-Fragen“ der nicht Betroffenen will ich antworten.

    Warum ein Leben lang kämpfen mit den Geistern der Vergangenheit? In der Jakobsgeschichte heißt es doch: Jakob, Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Du hast gewonnen!!!

    Ja, ich habe gekämpft, ich habe mich verändert, ich habe mir Stück für Stück Freiheit erkämpft – und mit jedem Stückchen Freiheit habe ich gewonnen!!! Mit dem Vertehen-Können, was mit mir geschehen ist, habe ich gewonnen! Mit dem schmerzhaften Erkennen, was in mir zerstört wurde, was mir geraubt wurde, habe ich gewonnen! Ein schmerzhafter, langwieriger Prozess mit vielen Tränen ...

    Und weil ich gewonnen habe, darf ... kann ... ja, muss ich heute hier stehen und muss über mein Kinderhöllenlabyrinth sprechen. Mein Zurückgewinnen von Freiheit soll Betroffenen Mut machen, dass auch sie gewinnen können, und dass ein mit Teilsiegen mühsam zurückgewonnenes Leben lebenswert ist!

    An der Hüfte verletzt, verrenkt ... hinkend ...
    lässt es sich trotzdem leben – denn Leben ist wertvoll!
    Du – missbrauchter Mensch bist wertvoll!
    Denn Du bist ein Mensch! – Du trägst das Angesicht Gottes!
    Auch, wenn Du wie Dreck behandelt wurdest
    auch wenn Du Dich deswegen wie Dreck fühlst!
    Genau das habe ich mir errungen – dass ich das zu mir selbst sagen kann!

    Liebe Brüder und Schwestern,

    Liebe Menschen, die ihr Gottes Angesicht tragt,

    ihr merkt sicher mein Ringen um Worte, ihr merkt dass mir jeder Satz schwer über die Lippen kommt ... dass ich einen Klos im Hals habe, dass ich auf der einen Seite kaum Stimme habe, dass ich auf der anderen Seite meine Predigt am liebsten hinausschreien möchte. Meine Predigt möchte ich in den Medien lesen, nicht eine abgeschmackte, schamlose und voyeuristische Berichterstattung, die erneut die Seelen von Betroffenen verletzt.

    Bitte, liebe Berichterstatter!

    Es geht um Menschen, um menschliches Leid ... geht verantwortlich damit um! Zerrt nicht einfach Opfer / oder Täter ins Rampenlicht, ohne darüber nachzudenken, was Eure Berichte für einen Sinn haben, was sie bewirken können oder bewirken sollen! – Helft „das Tabuthema: Sexueller Missbrauch“ so zu behandeln, dass die Hürde nicht noch größer wird, die Verbrechen anzuzeigen.

    Bitte helft verantwortlich! –

    Ich sag´s noch mal deutlicher:

    Dreht keinen Film in meinem Kinderzimmer ... in den Kinderzimmern der Opfer ... zeigt nicht die Spuren von sexueller Gewalt, die an den Wänden, auf den Böden, in den Betten und auf den Menschen klebt! – Macht daraus keinen spannenden Gruselfilm, den man ausschalten kann, wenn er einem zu dicht kommt!

    Fragt mich nicht, ob mein Peiniger auch bei mir eingedrungen ist ... bitte tut das nicht! – Das ist Sache der Verantwortlichen! Ihr wisst schon, was ich meine! Macht aus meinem Schmerz, und aus dem Schmerz unzähliger Opfer, keine flüchtige Sensation!

    Was hilft, ist gut!
    Was zum Verstehen beiträgt, ist gut!
    Was „die Warum-Fragen“ zu beantworten versucht, ist auch gut!
    Ein letztes mal komme ich zu Jakob zurück.

    • Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, so dass hinüberkam, was er hatte, und blieb allein zurück.
  • Warum bleibt er allein zurück?
  • Das Alleinsein hat mich die ganze Zeit beschäftigt. Es gibt Hilfe ... es gibt verständige, mitfühlende Menschen, die verstehen wollen, es gibt Leidensgenossen, die sich über ihre Wunden austauschen. Borderliner unter Borderlinern, die sich in Kliniken untereinander stützen. Doch der entscheidende Kampf muss allein geführt werden. In diesem Kampf kämpft sich jeder Betroffene / jede Betroffene in sich mit sich ab.

    Das wurde mir an einem schrecklichen Ort schlagartig klar. Es war die Leichenhalle neben der Kirche, in der ich 6 Jahre lang als Pastorin Dienst getan hatte. Meine Vergangenheit hatte mich wieder eingeholt, es gab noch Giftfässer in meinem Seelenkeller,  die ich öffnen musste, um weiter leben zu können.
    In dieser Leichenhalle musste ich mich entscheiden, ob ich weiter leben will oder nicht. Obwohl ich innerlich nichts anderes fühlte als absolute Einsamkeit, habe ich mich für das Leben entschieden.

    Hätte ich mich getötet, hätte am Ende mein Peiniger über mich gesiegt.

    So entschloss ich mich mit Gott zu ringen.
    Und ich habe mit ihm gerungen – habe ihn nicht losgelassen.
    Ich lasse dich nicht, du tröstest mich denn.

    Er hat mich getröstet.
    Der Mensch gewordene Gott hat tief in meinem Inneren gesprochen:

     

    • Ich bin Mensch geworden für Dich!
    • Ich habe mich in Deine Haut hineingelebt – ich bin in Deinen Schuhen gegangen,
    • ich kenne Deine Qual, Dein Gefühl, eine Ausgestoßene zu sein.
    • Ich – Dein Gott – lebe Dein Leben mit.
    • Als Zeichen dafür steht das Kreuz, an dem ich gestorben bin.
    • Ich bin mit Dir durch die Todesschattenschlucht gegangen.
    • Und ich sage Dir: Lass uns das Kreuz noch einmal gemeinsam anschauen.
    • Es ich Mein und Dein Kreuz – aber wir beide – ich und du – wir stehen vor dem Kreuz als Auferstandene.
  • Du sollst Dein Leben leben als mein auferstandenes Kind.

    AMEN

    Mit G rechnen

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