Predigt 2 Juli 2011

Predigt, gehalten am 2. Juli 2011 in St. Marien am Alexanderplatz Berlin, in der Gottesdienstreihe „Rausch der Sinne“, das Thema der Predigt war zuvor angekündigt worden. Der Predigttext war Hiob 19. Meiner Predigt folgte der Song „Apologize“ und eine Predigtteil 2 gehalten von Dr. Bertold Höcker, Superintendent von Berlin Stadt Mitte.

 

Liebe Brüder und Schwestern,

die ihr Gottes Angesicht tragt!

 

Mein Schicksal ist das von unzähligen Menschen:

Ich wurde in meiner Kindheit schwer sexuell missbraucht.

 

Es konnte geschehen, einfach so.

Und ich war gefangen

in einem höllischen Labyrinth ohne Ausgang.

 

Alles um mich herum nahm ich verzerrt wahr.

Der Boden unter meinen Füßen gab keinen Halt,

Urvertrauen und Selbstvertrauen

konnte ich nicht entwickeln.

 

Mein Peiniger hat meine Kinderseele zerquetscht.

 

Um nicht wahnsinnig zu werden,

musste ich meine ganze Kraft aufwenden.

Abspaltung wurde für mich ein eingefleischter Mechanismus.

Was meine Seele nicht ertrug,

wurde tief in mir vergraben, weggepackt.

 

Überleben ... irgendwie überleben ....

 

Wenn ich mir heute Kinderfotos anschaue

und meine toten Augen darauf sehe,

schwemmt mich Trauer davon.

 

Mein halbes Leben bin ich vor mir selbst davongelaufen.

 

Um nicht in Depressionslöcher zu fallen,

wurde ich Alkoholikerin.

Zweifellos ein Teufelskreis ohne Ausweg.

 

Wie ich ihn doch gefunden habe – den Ausweg

grenzt an ein Wunder.

Ich führe es zurück auf meine permanent schreiende Seele.

 

Meine Seele hielt sich fest am Kreuz,

das ich mir in tiefster Nacht

im Alter von 12 Jahren gebastelt habe.

 

Das, was ich im Alter von 12 Jahren vom Kreuz wusste,

reichte mir aus, um es als Zeichen für das TORTZDEM,

TROTZ ALLEM zu nehmen.

 

Eigentlich verrückt!

Ich, die 12 Jährige verstand instinktiv,

dass ich all meine quälenden existentiellen Fragen

an das Kreuz heften konnte.

Denn ich, die 12 Jährige zusammen mit der 6 Jährigen,

die ich auch einmal war, verstand viel vom Leid.

 

****

Kämpfen wurde mir zur Natur!

 

Kämpfen gegen das Leid,

das Menschen Menschen antun.

Wach, rebellisch und herausfordernd

habe ich mich in die Theologie gestürzt.

 

Und dabei habe ich mit meinem Gott gerungen.

 

Einen weiten Weg bin ich mit Gott an der Seite gegangen.

Und wir beide standen mehrfach

an der Grenze von Leben und Tod.

 

Das Ringen in mir mit Gott

hat meine innere Stimme wach gehalten,

die nie aufgehört gegen Menschenverachtung anzugehen, um meiner selbst willen.

 

Das Ergebnis, der Lohn für diesen beschwerlichen Weg:

Mich gibt es noch!

Ich habe nicht aufgegeben, mich nicht selbst verlassen,

mich nicht verleugnet, mich nicht umgebracht!

Trotz allem!

 

Klar, ohne professionelle Hilfe von Außen, ging es nicht.

Ohne Klinikaufenthalte, Medikamente, Psychologen, Psychiater, Analytiker ...

 

Heute noch quälen mich Alpträume

und „alte Opfergefühle“, wie:

  • Schuld, Scham,
  • Angst, Einsamkeit,
  • Ohnmacht und unglaublicher Zorn.
  • Ein unbeschreibliches Gefühlscocktail.

     

    Echt geholfen hat mir die Liebe

    und das Verständnis meines Ehemannes, Martin,

    er hat mich angenommen, so wie ich bin.

    Und das gibt mir Vertrauen.

     

    *****

    Nu aber zu Hiob,

    dem Prototyp eines Leidenden –

    Er ist mir vertraut ... seine Denkweise ... sein Protest ...

    sein unbeugsamer Wille ...

    Hiob hat mir Mut gemacht – hat mir gezeigt, dass es geht:

    mit Gott zu ringen – aber nicht mit Gott zu brechen.

     

    Die Zornesausbrüche Hiobs sind mir sympathisch ...

    Sein Mut, auszusprechen,

    was andere nicht mal zu denken wagen.

     

    An seinem Lebensnerv getroffen,

    steht Hiob zu dem, was er fühlt.

    Steht er zu sich selbst ... seiner inneren schreienden Stimme....

    er lässt sich nicht weiter demütigen,

    sich klein machen ... irritieren,

    er lässt nicht zu, dass alles,

    was er in seinem Leid erlebt hat, kleingeredet wird.

     

    „.... Dass doch meine Worte aufgeschrieben würden!

    Mit eisernem Griffel und Blei in den Felsen gehauen auf ewig!“

     

    O dass doch das Leid zum Himmel schreit,

    dass alle wach werden!

    Sinnloses, brutales Leid, das gegen Gott spricht ...

    Unbegreifliches ... unberührbares Leid.

    ****

    Hiobs Wunsch, dass sein Leid mit eisernem Griffel und Blei

    in den Felsen gehauen werden möge,

    so dass es unübersehbar ist für alle –

    ist auch mein Wunsch – der Wunsch unzähliger Missbrauchsopfer.

     

    *****

     

    Das unvorstellbare Leid missbrauchter Menschen

    wird von je her verharmlost, übersehen, abgewehrt ... vertuscht ...

    totgeschwiegen, gar überhaupt nicht als Leid wahrgenommen.

     

    ****

    Schrecklich, wenn man bedenkt,

    wie der Missbrauch funktioniert,

    und was Tätern hilft, unerkannt zu bleiben.

     

    Zum Beispiel eine gut bürgerliche Fassade ...

    das Übersehen von Hilferufen und Notsignalen,

    das Undenkbare nicht denken zu wollen ...

    UND – die unglaubliche Scham der Opfer.

    ****

    Mir hat meine Mutter,

    als ich sie endlich 2006 mit meinem Leid

    Konfrontiert habe, geantwortet:

    „Aber Vater war doch ein Ehrenmann!“

    ****

     

    Begreift doch endlich!

    Hört uns doch endlich zu!

    Nehmt unser Leid wahr, wischt es nicht weg!

    Kindesmissbrauch bedeutet Entmenschung!

     

    Hiob beschreibt seine Entmenschung so:

    „Meine Ehre hat Gott mir ausgezogen

    und weggenommen die Krone meines Hauptes“

    Hiobs Leben wurde durchgestrichen.

     

    Nur noch Leid und Schmerz.

    Trotzdem hat Hiob nicht geschwiegen.

     

    Er konfrontierte seine Umwelt.

    Dabei wusste er,

    dass man ihm wenig Verständnis

    oder Mitleid entgegen bringen würde.

     

    Selbst seine engsten Freunde und Verwandten

    haben sich von ihm distanziert.

    Seiner Ehefrau war er widerlich, Ekel erregend geworden –

    sie wünschte sich sogar seinen Tod.

     

    In dieser kompletten Entfremdung hat Hiob

    nicht aufgegeben zu kämpfen.

     

    Nein – Gott – Dich lass ich nicht aus!

    „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt;

    und als der Letzte wird er über dem Staub stehen.

    Und nachdem man meine Haut so zerschunden hat,

    werde ich doch aus meinem Fleisch Gott schauen.“

    *****

     

    Im Mai dieses Jahres bin ich nach über 35 Jahren

    an den Ort zurück gekehrt,

    an dem ich die schwerste Zeit meines Lebens erlebt habe.

    Dort dachte ich:

    „Jeder Tag meiner Kindheit und Jugend war für mich November ... jeder Tag Karfreitag.

     

    Ich saß auf einem Baumstumpf und schaute in den Himmel.

    Durch die Baumkronen glänzte die Sonne weiß –

    und ich fühlte zum ersten mal AUFERSTEHUNG für mich.

    *****

     

    Hiob macht uns allen Mut.

    2009/2010 sind in vielen Ländern Missbrauchsfälle aufgedeckt worden.

    Endlich wurden die Opfer wahrgenommen – und die Täter auch benannt.

    Endlich wurden Bedingungen, die Missbrauch begünstigen,

    erkannt ... wurden Aussagen aufgenommen ... mussten sich

    Vertreter/ Verantwortliche von Institutionen fragen lassen,

    warum nicht schon früher gehandelt wurde,

    warum Täter so lange Zeit ungestört Kinder missbrauchen konnten.

     

    Der Gang in die Öffentlichkeit war dazu notwendig.

    Es muss noch viel darüber diskutiert werden.

    Gerade bei den geschehenen Taten,

    die unter die Verjährung fallen.

     

    Neue Hoffnung macht uns auch,

    dass es Vertreter von Institutionen gibt,

    die gewissenhaft und konsequent handeln.

    Darum bin ich ja auch heute hier in Berlin.

    In der Kirche Berlin-Brandenburg.

     

    Es gibt aber auch noch Mauern, Imagewahren, ...

    Todschweigen, Zeit gewinnen, vertrösten ... 

    Abblocken von Aufklärung,

    sich verstecken hinter Fadenscheinigen Ausreden.

     

    Diese Haltung schafft kein Vertrauen ...

    missbrauchte Menschen spüren das

    und wenden sich ab.

     

    Vertreter von Institutionen, die das verstehen,

    bringen Licht in das Dunkel der Vertuschung.

    So hängt es an den Menschen, an jedem Einzelnen,

    der Gesicht zeigt, sich der Sache stellt,

    und damit der Denkungsart entgegentritt, die das geschehene Leid nicht wahrnehmen will.

     

    Solche Menschen machen Hoffnung.

    AMEN

     

    Mit G rechnen

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